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Wissen als Konstrukt

Unter W verstehen wir Abstraktionen aus der Erlebenswelt, von denen wir annehmen, dass sie Erlebtes – d.h. Situationen, Tatsachen, Begriffe, Ideen, Zusammenhänge und Theorien – zutreffend repräsentieren und für zukünftiges Handeln eine verlässliche Basis bilden. Dass W, eben weil es sich brauchbar erwiesen hat, ein wahrheitsgetreues Bild einer vom Beobachter (erlebendes Subjekt) unabhängigen Realität darstelle, ist ein Trugschluss der realiistischen Philosophien (^Objektivität). Vom konstruktivistischen Gesichtpunkt aus ist das Verhältnis von W zur Realität nicht ein bildhaftes, sondern das Ergebnis der Anpassung. W als Tätigkeit lässt sich mit jener eines Flusses vergleichen, der seinen Lauf zwischen den hemmenden Hindernissen einer Landschaft sucht. Der Lauf des Flusses wird einerseits durch Schranken der Landschaft bestimmt, andererseits durch die innere “Logik” des Wassers, die es ihm unmöglich macht, aufwärts zu fliessen. In konstruktivistischer Sicht bezieht W sich nicht auf das, was “an sich” existieren soll, sondern (wie im Pragmatismus) auf das, was sich in der Lebenspraxis als erfolgreich erwiesen hat. Statt nach “Wahrheit” im Sinne der Übereinstimmung von W und ontischer Realität zu suchen, verlangt der Konstruktivist “funktionelles Passen” in der Erlebenswelt. Ein Begriff, eine Denk- oder Handlungsweise, usw. werden als “viabel” (gangbar) bezeichnet, wenn Erfahrung gezeigt hat, dass sie erwirken, was von ihnen erwartet wird.

Die Grundprinzipien der konstruktivistischen Wissenstheorie sind:

1. W kann nicht passiv übernommen werden, sondern muss von einem aktiven Subjekt aufgebaut werden;

2. Der Zweck des W ist adaptiv und dient der Organisation der Erlebenswelt, nicht der Erkenntnis einer ontischen Realität.

Jean Piaget, der Begründer der konstruktivistischen Psychologie im 20. Jahrhundert, fasste die Situation in dem Satz zusammen: “Der Verstand organisieert die Welt indem er sich selbst organisiert.” (Piaget, 1937) Dieser Satz wurde oft fälschlich als Ausdruck idealistischer Philosophie interpretiert. Diese Auslegung ist verirrt, denn für Piaget war die Wissenstätigkeit eine Form der Anpassung und die Welt, die der Verstand organisiert, ist nicht was idealistische Philosophen Realität nennen, sondern die Welt individueller praktischer Erfahrungen. Diese pragmatische Auffassung von Wissen entspricht durchaus der Ansicht der grossen Physiker des 20. Jahrhunderts, die ihre Theorien nicht als Beschreibung einer vom Beobachter unabhängigen Welt betrachteten, sondern als Modelle der Erfahrungswelt.

Lerntheorie

Die konstruktivistische Lerntheorie stützt sich weitgehend auf Piagets Begriff des Handlungsschemas, der seinerseits von den in Kleinkindern beobachteten biologischen Reflexen abgeleitet wurde. Reflexe werden meistens als zweiteilig betrachtet: Die Wahrnehmung eines Auslösers und die ausgelöste Handlung. Piaget formte die Idee des Handlungsschemas, indem er einen dritten Teil hervorhob, nämlich das Ergebnis der ausgelösten Handlung, das die Assoziation von Ausl¨ösersituation und Handlung im Laufe der Entwicklungsgeschichte hervorgebracht hat. Handlungsschemas bilden sich, wenn eine Handlung zu einem “interessanten” oder vorteilhaften Ergebnis führt. In diesen Fällen wird die Handlung mit der Wahrnehmung der vohergehenden Situation assoziiert. Das Handlungsschema verkörpert zwei der Piagetschen Grundbegriffe. Erstens, da Tatbestände im Fluss des Erlebens niemals mit vorhergehenden indentisch sind, liegt der wiederholten Wahrnehmung einer Auslösersituation stets eine Assimilation zugrunde. Das heisst die Wahrnehmung wird als Auslöser erkannt, wann immer die ursprünglich vermerkten Einzelheiten vorhanden sind, gleichgültig was sonst noch wahrgenommen werden könnte. Zweitens, wenn die ausgelöste Handlung nicht das erwartete Ergebnis zeitigt, führt das zu einer Perturbation (Störung des Gleichgewichts), die eine Prüfung der Ausgangssituation bewirken kann. War das unerwartete Ergebnis ein angenehmes oder vorteilhaftes, so kann eine Neugestaltung des Erekkenungsmusters ein neues Handlungsschema schaffen. War das Ergebnis negativ, so kann das ursprüngliche Schema durch eine Änderung des Erkennungsmusters repariert werden. In beiden Fällen handelt es sich um eine Akkommodation.

Konsequenzen für Didaktik

Die konstruktivistische Wissenstheorie stimmt in zwei wichtigen Punkten mit der Kybernetik überein. Hier wie dort gilt das Prinzip der Selbstorganisation (Aufbau, nicht als Wirkung äusserer Ursachen, sondern auf grund von internen Perturbationen) und in beiden Sparten wird der Begriff der Informationsübertragung (^Informationsübertragung) radikal umgebaut. Die Idee, dass W Lernenden als solches eingeflösst werden kann (Nürnberger Trichter), ist unsinnig. Durch Wiederholung und Auswendiglernen können wohl erwünschte Handlungsweisen wie etwa das Herunterleiern von Zahlwörtern, Wochentagen, und die Ausführung nützlicher praktischer Verhalten angelernt werden, doch Verständnis ist bei dieser rein mechanischen Lehrmethode bestenfalls ein glücklicher Zufall. Weder Sprechen noch Texte transportieren begriffliches W von einer Person zur anderen, doch sie können Aufmerksamkeit lenken und dadurch den Aufbau konzeptueller Verbindungen und Netzwerke orientieren. Lehrende, die den Aufbau von W fördern wollen, müssen sich darüber klar werden, dass es darum geht, Denken zu verändern, nicht nur Verhalten. Um das zu erreichen, müssen Lehrende ein zumindest ungefähres Bild von dem haben, was in den Köpfen der Lernenden vorgeht. “Fehler” sind aus diesem Grund von grosser Wichtigkeit, denn sie erlauben Schlüsse auf die Denkweisen, die sie hervorgebracht haben.

Konstruktivistische Vorschläge haben in den vergangenen zwanzig Jahren einen beachtlichen Einfluss auf Lehrmethoden in der Mathematik und den Naturwissenschaften ausgeübt und es mangelt nicht an erfolgreichen Anwendungen. Die konstruktivistische Wissenstheorie stösst aber auch auf heftigen Widerstand, denn die unerbittliche Agnostik in Bezug auf eine ontische Realität wird oft als Verleugnung aller Wirklichkeit missverstanden.

Literatur

Piaget, J. (1937) La construction du réel czez l’enfant. Neuchâtel: Delachaux et Niestlé.

Copyright: Der Beitrag erscheint in "Das Große Lexikon Medien und Kommunikation" herausgeben von Leon R. Tsvasman. © 2006 Ergon-Verlag Dr. H.-J. Dietrich, Würzburg, Germany.